GESCHICHTE DER SELBSTFOTOGRAFIE

Die Geburtsstunde der Photographie wird auf den 19. August 1839 datiert. An diesem Tag wurden an der Akademie der Wissenschaften in Paris alle Einzelheiten der Daguerreotypie bekanntgegeben.
Das nach LOUIS J. M. DAGUERRE (1787-1851) benannte Abbildungsverfahren war revolutionär und weckte weltweites Interesse. Personenaufnahmen schienen mit dieser Technik jedoch nur schwer möglich. Aufgrund der langen Belichtungszeiten von anfangs acht bis zwanzig Minuten waren bewegte Personen stark verwackelt oder nur noch schemenhaft erkennbar. Für ein gestochen scharfes Bild zu posieren wurden für das Modell zur echten Folter: Bei prallem Sonnenlicht musste man regungslos und mit weit geöffneten Augen vor der Kamera verharren. Erst der Einsatz von Kopf- und Körperstützen brachte Erleichterung.

Dass die Daguerreotypie in den USA sofort den gleichen Erfolg hatte wie in Frankreich, war durch den Maler Samuel Morse möglich, der sich im Jahre 1839 in Paris aufhielt. Der Erfinder des telegraphischen Alphabets hatte über seinen Besuch bei Daguerre eine aufsehenerregende Reportage geschrieben, die seine Landsleute in Begeisterung versetzte und sofort die Bewegung zur geschäftlichen Auswertung dieses Verfahrens hervorrief.

Papagei oder Gießkanne?

Robert Cornelius, "Selbstportrait", 1839. Privatsammlung, Philadelphia.
Robert Cornelius, "Selbstportrait", 1839. Privatsammlung, Philadelphia.

Der junge Klempner ROBERT CORNELIUS (1809-1893) erhielt aus New York den Auftrag, eine Kamera gleich der Daguerreschen zu bauen.
Als optische Linse verwendete Cornelius ein einfaches Opernglas. Aus der zweiten Linse baute er sich eine eigene Kamera und erlernte das Aufnahmeverfahren von seinen Auftraggebern Joseph Saxton und Dr. Paul Beck Goddard, Professor für Chemie an der Universität Pennsylvania.
Die größte Herausforderung und der Beweis der einwand­freien Funktion der angefertigten Kamera war natürlich eine Portraitaufnahme. Zu diesem Thema schlug die satirische Zeitung 'Le Charivari' vor: "Sie wollen ein Portrait von Ihrer Frau machen. Stecken Sie ihren Kopf für einige Zeit in einen Eisenkragen, um die erforderliche Bewegungs-losigkeit zu gewährleisten... Richten Sie sodann das Objektiv der Kamera auf ihr Gesicht, und wenn Sie das Portrait aufgenommen haben, dann ist am Ende nicht sie darauf zu sehen, sondern Ihr Papagei oder Ihre Gießkanne oder noch etwas Schlimmeres."
Kein williges Opfer für seine Versuche findend, versuchte Cornelius im November 1839 zunächst ein Selbstbildnis. Ein spezieller Auslöser war bei der langen Belichtungszeit nicht nötig. Er nahm den Objektivdeckel von der Kamera und setzte sich rasch auf einen gegenüberliegenden Stuhl, auf den er scharf eingestellt hatte. Nach etwa 10 Minuten unbeweglichem Sitzen schloss er die Kamera und erhielt tatsächlich das gewünschte Bild, das er am 6.12.1839 der American Philosophical Society vorlegte.
Mit Erfolg eröffnete Cornelius im Mai 1840 in Philadelphia eines der ersten öffentlichen Portrait­ateliers der Welt.

Selbstportrait eines Ertrunkenen

Hippolyte Bayard, "Selbstportrait als Ertrunkener" 1840. Societé Francaise de Photographie, Paris
Hippolyte Bayard, "Selbstportrait als Ertrunkener" 1840. Societé Francaise de Photographie, Paris

Unterdessen gab es in Paris viel Streit um die Erfindung der Photographie. Daguerre und sein Partner Isidore Niépce wurden von der französi­schen Regierung mit einer großzügigen Prämie und einer jährlichen Pension von 6000, bzw. 4000 France bedacht, während Entwickler ähnlicher Verfahren leer ausgingen.
Der unglücklichste unten den Foto-Pionieren aber war HIPPOLYTE BAYARD (1801-1887), ein Beamter im französischem Finanzministerium, der am 14. Juli 1839 in Paris dreißig Photo­graphien ausstellte. Seine Methode war originell: Er setzte Chlorsilberpapier dem Licht aus, bis es sich geschwärzt hatte. Dann tauchte er es in eine Jodkaliumlösung und belichtete es in der Kamera. Dabei wurde das Papier durch das Licht je nach dessen Intensität gebleicht, und er erzielte auf diese Weise Direkt-Positive, jeweils Unikate. In der Aufregung, die die Veröffentlichung der Daguerreotypie ver­ursacht hatte, wurde die Arbeit Bayards völlig übersehen. Sein Missgeschick kommentierte er mit einem Foto aus dem Jahre 1840. Es stellt ihn selbst als Toten, halb nackt an der Wand gelehnt, dar. Auf die Rückseite des Bildes schrieb er: "Die Leiche des Mannes, die Sie umseitig abgebildet sehen, ist die diejenige des Herrn Bayard... Die Akademie, der König und all diejenigen, die dieses Bild gesehen haben, waren von Bewunderung erfüllt, wie Sie selber sie gegenwärtig bewundern, obwohl er selbst sie mangelhaft fand. Das hat ihm viel Ehre, aber keinen Pfennig eingebracht. Die Regierung, die Herrn Daguerre viel zu viel gegeben hatte, erklärte, nichts für Herrn Bayard tun zu können. Da hat der unglückliche sich ertränkt."

Im Juni erhielt Bayard auf Fürsprache Aragos vom Innenminister Duchatel eine Prämie von 600 France, die ihm Ermutigung und Möglichkeit zu weiteren Versuchen geben sollte. Die Anerkennung für weitere Arbeiten blieben nicht aus: Im Jahre 1842 erhielt er einen Preis von 3000 Francs und im Jahre 1862 wurde er zum Ritter der Ehrenlegion geschlagen.

Licht und Zeit

Nadar, "Selbstportrait" 1856.         Musée d’Orsay, Paris.
Nadar, "Selbstportrait" 1856. Musée d’Orsay, Paris.

Bereits 1841 konnten durch lichtstärkere Objektive und sensiblere Fotoschichten die Belichtungszeiten im günstigsten Falle auf einige Sekunden reduziert werden. Portraitaufnahmen wurden damit stark vereinfacht. Um ein Verwackeln zu verhindern, wurden Kopf- und Körperstützen entwickelt, damit sich das Modell nicht bewegt.
Die Nachfrage an Lichtbildern stieg enorm, gab es erstmals eine echte Alternative zur Portraitmalerei und auch weniger betuchten Leuten die Möglichkeit, sich in einer Familiengalerie zu verewigen. Vor allem in Europa und in Nordamerika kamen Portraitstudios schnell in Mode.

Mit dem nassen Kollodiumverfahren konnte man bei photo­graphischen Platten ab 1851 eine detailreichere Wiedergabe und eine höhere Lichtempfindlichkeit erreichen. Bei optimalen Lichtverhältnissen wurden sogar Momentaufnahmen unter einer Sekunde möglich. Der Nachteil des Verfahrens lag in der Handhabung: Die Platten mussten vor Ort und Stelle lichtempfindlich gemacht werden, im noch nassen Zustand belichtet und danach sofort entwickelt werden. Das Fotografieren blieb deshalb noch lange Zeit in der Hand der Gewerbetreibenden, denn ein eigenes Labor war unentbehrlich.

Ein großer Fortschritt war die bereits industriell fertig präparierte Trockenplatte, deren Markt­einführung um 1880 stattfand. Die Photographie vereinfachte sich damit wesentlich. Mit dem Slogan "You press the button, we do the rest" erreichte sie 1888 dann auch den Photo­amateur. Kodak präsentierte die erste Kamera mit Rollfilm, die gegenüber Platten­kameras eine Verringerung des Kameragewichts und einen Filmvorrat von 100 Aufnahmen aufwies.

Der Bedarf an Selbstportraits war zu dieser Zeit noch gering. Der professionelle Photograph hatte an Aufnahmen dieser Art nur mäßiges Interesse. Es fehlt bis heute der prüfende Blick auf das Motiv, zum anderen ist der exakte Auslösemoment meist ungewiss. Man erkennt erst nach dem Entwickeln, was einem vor die Linse gekommen ist. Der Amateur hingegen kannte bisher nur den Weg zum Photographen, um abgelichtet zu werden.

Illusion mit Hühnern

Die Möglichkeit sich selbst zu fotografieren, kam für den Normalbürger erstmals 1889 in einem großen Automaten zur Anwendung, der gegen Einwurf einer Münze die vor sich stehende Person aufnahm und dann automatisch die Platte entwickelte und fixierte.
Der bekannteste dieser Automaten wurde der von dem Hamburger Conrad Bernitt 1894 konstruierte Bosco-Automat, benannt nach dem damals bekannten Zauberkünstler Bartolomeo Bosco. Dessen berühmtester Trick schien die Köpfe von zwei lebenden Hühnern, einem schwarzen und einem weißen, auszutauschen. Robert Houdini warf ihm öffentlich Tier­quälerei vor, obwohl er wusste, dass dieser Trick eine Illusion war, die den Tieren kein Leid zuführte.

Ebenso spektakulär wie ungefährlich war Bernitts Apparat, der Köpfe auf eiserne lackierte Blechplatten bannte. Ihr aufgebogener Rand diente gleichzeitig als Entwickler- und Fixierschale. Es gab um 1900 wohl kaum einen Jahrmarkt oder Volksfest, auf dem dieser Automat nicht in Tätigkeit getreten wäre.

Der richtige Draht

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden auch in Deutschland Selbstauslöser hergestellt. Die Firma Ernemann aus Dresden offerierte eine Uhrwerksvorrichtung, "sich ohne fremde Hülfe selbst zu photographiren". Ihren Autophotograph gab in zwei verschiedenen Ausführungen und ließ sich an die gängigsten Verschlüsse anbringen, die sich über Knopfdruck oder Hebel auslösen ließen. Um einen korrekten Ablauf zu gewähren, konnte man seine Kamera per Post an das Werk einschicken und einen Selbstauslöser anpassen lassen.
Die Autophotograph wurde von den Auto-Bob abgelöst, die es gleich in drei verschiedenen Ausführungen gab. Aus Hamburg kam der Effwee-Autoknips in sogar vier verschiedenen Modellen auf den Markt, doch auch hier machte die Anbringung weiter Schwierigkeiten.

Glücklicherweise stellte Ibsor 1908 erstmals einen sogenannten Selbstspannverschluss vor. Neu war an ihm auch ein konisches Gewinde für den Anschluss von Drahtauslösern. Mit dem Compur-Verschluss fand es allgemeine Beachtung und internationale Normung. Seitdem sind Selbst­auslöser für alle Kameras geeignet, die über ein solches Gewinde verfügen. Man konnte sie über einen Drahtauslöser wirken lassen oder auch direkt einschrauben.

Entwicklung eines Volkssports

Ernemann 'Autex' (1910)
Ernemann 'Autex' (1910)

Die Entwicklung von einheitlichen Drahtauslösern erwies sich als sehr hilfreich. Schon bald hatten viele Verschlüsse die Möglichkeit, ohne Gummischlauch, Umbauarbeiten oder Verwacklung aus kurzer Distanz ausgelöst werden zu können.
Ernemann würdigte diese Entwicklung mit dem Autex, der einen dieser neuen Drahtauslöser eigenständig zusammen drückt. Mit einer unübersehbaren Signalscheibe, die sich bei Bedarf ausklappen lässt, kann der Verlauf der Auslösung aus der Ferne beobachtet werden. Der Autex wurde als "kleines äußerst sinnreich gearbeitetes Präzisionsuhrwerk von denkbar geringen Abmessungen und geringem Gewicht" angeboten. Dieser Beschreibung sollten noch viele Selbstauslöser folgen.

Die Photographie entwickelte sich zum Volkssport, Selbstauslöser zu einem originellen Geschenk und erschwinglichem Zubehör für den Fotoamateur. Kameras mit noch ungeregeltem Verschluss konnten dabei mit einem Zeitauslöser nachrüsten. Besaß man bereits einen Zeitenverschluss, reichte ein einfacher Momentauslöser aus, denn die Regulierung der Belichtung übernahm ja bereits der Verschluss.

Fortsetzung folgt...